„Luft machen“

Es war einer dieser Tage an denen du das Gefühl hast die Welt sei gegen dich, raubt dir jegliche Hoffnung und Kraft. Du weißt weder vor noch zurück. Weißt nicht, welcher Schritt nun der Richtige wäre und rechnest generell mit dem Schlimmsten – begegnest deiner Umwelt mit Misstrauen.

Selbst das Wetter scheint sich gegen dich verschworen zu haben. Grau und diesig, mit hin und wieder einem Regenschauer, versucht es gar nicht erst dich aus deinem Versteck herauszulocken und dir die Welt und das Leben wieder schmackhaft zu machen.

Du arbeitest und lebst nur noch als Maschine – als Roboter der Gesellschaft – für deinen Unterhalt, deine Familie und Freunde. Sie sind die Einzigen – der einzige Grund – warum du überhaupt noch Tag für Tag aufstehst, zur Schule bzw. später dann zur Arbeit gehst und versuchst so gut es eben geht, und so unauffällig wie nur möglich, dein Leben zu meistern.

Du möchtest kein Egoist sein. Dich nicht aus dem Leben „durch eigene Hand“ verabschieden und Ihnen damit Kummer und Leid bereiten.

Lieber eine Maske aufsetzen, die „Spielchen“ des Lebens mitspielen und signalisieren, das alles gut ist. Immerhin sind sie dir wichtiger als du es dir selber bist!

In der „Lernphase“ des Tragens dieser Maske gabs den ein oder anderen Ausrutscher.

Die Ess-Störung kam zuerst. Natürlich war es falsch sie sich überhaupt anzueignen und es war klar, dass sie mindestens einer der dir so nahe stehenden Personen früher oder später weh tun würde, aber in den Minuten des Essens bzw. viel mehr des Fressens ging es dir gut. Das du dich danach im Gegensatz zu vielen anderen Menschen nicht erbrechen konntest und wimmernd vor der Toilette kauertest, war der Moment, der dich jedes Mal wieder in die Realität zurückholte, aber der dich dennoch nicht davon abbrachte, diese Prozedur immer und immer wieder, Tag für Tag, über Monate hinweg, zu wiederholen. Sogar nicht ganz unüberlegt, denn um es vor deiner Familie zu verheimlichen sammeltest du alle Verpackungen deiner Sünden in deinem Zimmer, um sie nach und nach außerhalb der Wohnung in öffentlichen Mülleimern zu entsorgen, bevor jemand etwas bemerken könnte. Zusätzlich stopftest du die normalen Mahlzeiten im familiären Kreis in dich, um auch dort keinen Verdacht zu erwecken. Doch der Tag, an dem die Tarnung aufflog, kam.

Es war ein heller Schrei, der dir durch alle Glieder fuhr, als du im Wohnzimmer saßst und deine Mutter „nur kurz die Wäsche“ in dein Zimmer bringen wollte. Ein Moment, den du nie mehr vergessen wirst, der dir aber auch ermöglichte, von einem Tag auf den nächsten damit aufzuhören und der dir zeigte, dass man selbst von „so etwas“ Entzugserscheinungen bekommen kann.

Der zweite „Fehler“, den du machtest, sorgte (seltsamerweise?) in der Familie für keinen großen Aufschrei – er wurde als „pubertäre Spinnerei“ abgetan. Dieser „Ausbruch“ war das Ritzen. Es begann damit, dass du erkanntest, dass man seelische Schmerzen mit körperlichen etwas „Luft machen“ kann. Anfangs genügten Buchstaben von den Sachen, die dich belasteten, auf den Unterarm zu „schreiben“, doch als du merktest, dass dies viel zu offensichtlich ist und nach „Aufmerksamkeit und Mitleid erwecken“ aussah, machtest du auf deinem Bauch weiter.

Mittlerweile waren wieder einmal mehrere Monate vergangen und du erkanntest deine Liebe zum Tanzen. Jedes Wochenende auf der Tanzfläche alles rauslassen was dich beschäftigte war deine Art der Selbsttherapie. Für unter der Woche hattest du nun eine Reitbeteiligung, mit der du alleine weit raus in die Natur und unter all den positiven Sinnenwahrnehmungen abschalten und frei sein konntest, und nun, am Wochenende, das Tanzen.

Bei einer „Probestunde“ mit einem Therapeuten zu der du dich wegen deiner schlimmen Kindheit und deiner Prüfungsangst breitschlagen ließt, wurdest du gefragt: „Tanzen ist die Spiegelung des Todes, in die Natur raus das  Leben.. Wo sehen Sie sich eher?“

Und deine Antwort war: „Kein Leben ohne Tod.. so geht es mir besser.“

Mehr sagtest du ihm nicht. Kratztest nur etwas an mehr oder weniger normale Kindheitstraumen an, um ihm etwas zu bieten und nicht als „Verweigerin“ dazustehen. Sein Rat war, dich in psychologische Betreuung zu begeben – das hättest du nötig. Doch, wenn er nun schon sagt, dass das nötig wäre, was würde dann jemand sagen, dem du alles offen legst?

Du gingst nie wieder in eine solche Stunde und du hast es geschafft durch Tanzen und Reiten mit dem Ritzen aufzuhören und wurdest nur ein einziges Mal rückfällig, obwohl dein Leben weiterhin einige Tiefpunkte erlitt und du hin und wieder doch den Gedanken verspürtest, dass es jetzt so ein Moment wäre, wo du es wieder tun könntest.

Aber woher auch immer – wahrscheinlich weil du Menschen um dich hattest, die du mehr liebtest als du dich wohl je selber lieben könntest – hattest du irgendwann begonnen wieder Hoffnung zu schöpfen.

Vielleicht zogst du dich mit der Aufgabe, den Menschen zu helfen und sie glücklich zu machen, selber aus deinem eigenen Loch und schnapptest etwas von dem auf, was du bis dato noch nicht wirklich als real empfandest: Optimismus und Lebensfreude.

Du lerntest von klein auf wie schmerzhaft Enttäuschungen von Menschen sein können, die man über sich selbst gestellt hat und dass es Momente im Leben gibt, wo wieder einmal alles schlecht und die Welt trist und grau ist. Momente, wo das Herz so bricht, dass man denkt es zerreißt Einen komplett und ist nie wieder heilbar – nie wieder fähig so zu fühlen und jemandem Vertrauen zu schenken. Man baut sich aus diesem Grund eine riesige Schutzmauer, da es scheinbar sonst keinen anderen Ausweg gibt, um eine Wiederholung zu vermeiden.

Doch es ist heilbar und es kommen auch wieder schönere Momente – es dauert nur alles seine Zeit. Jede Heilung braucht je nach Verletzung unterschiedlich lang – sowohl körperlich als auch seelisch.

Dadurch, dass du das begriffen hast, lerntest du auch wieder dich an Kleinigkeiten zu erfreuen. Natürlich hast du auch Tage wie diesen, an denen du dich mal zurückziehst und soziale Kontakte meidest, um mit dir (und deinem Selbstmitleid) alleine zu sein, aber nur, um baldmöglichst wieder dem Tag, der Sonne, den Mitmenschen, wenn nicht sogar der ganzen Welt mit Optimismus, Lebensfreude und einem Lächeln entgegenzutreten!

Denn wie dein Opa schon sagte: Früher oder später erntet jede/r, was er/sie säät!

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